Durch das 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) soll die Versorgung in Deutschland langfristig anhand von Digitalisierung und Innovationen verbessert werden. Durch das DVG wurde auch der Weg für den Leistungsanspruch auf die Versorgung unter Verwendung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) geebnet. Seit Oktober 2020 können DiGA von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten verordnet oder nach Genehmigung durch die Krankenkasse abgegeben werden.
Marcus Bergler ist Experte für Digital Health, Go-to-Market, KOL/HCP Mapping und Profiling, Vertrieb und Marktstrategien. Ihn zeichnet seine jahrzehntelange Erfahrung in der Daten- und Dienstleistungsbranche für das Gesundheitswesen aus. Er war unter anderem als General Manager für die europäische KOL-Geschäftseinheit von Veeva tätig. Nun ist er Vice President Global Sales von D2L Pharma Research Solutions und in verschiedenen Advisory Boards und Beratungsrollen in Digital-Health-Unternehmen tätig.
PEIX: Lassen Sie uns einen Blick auf den aktuellen Stand der DiGA werfen. Es gibt zurzeit knapp 50 zugelassene DiGA, die insgesamt 10.000- bis 15.000-mal pro Monat verschrieben werden – durch weit weniger als 10 Prozent der deutschen Ärztinnen und Ärzte. Wie gut sind DiGA damit in der Regelversorgung angekommen?
Marcus Bergler: Um beurteilen zu können, ob DiGA in der Regelversorgung angekommen sind, muss man zunächst einmal die Datenbasis verstehen. Bei den Zahlen des DiGA-Berichts des GKV-SV, auf den sich die 10-15k „Verordnungen“ pro Monat beziehen, handelt es sich genau genommen um eingelöste Freischaltcodes. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, weil die Anzahl der tatsächlich ausgestellten DiGA-Rezepte mindestens doppelt so groß ist. Das liegt am Rezept-Einlösungsprozess, der ehrlich gesagt eher ein DiGA-Verhinderungsprozess ist: Nach der DiGA-Verordnung durch den Arzt muss der Patient nämlich erst mal das Rezept bei der Krankenkasse einreichen, bekommt dann Tage, oft auch erst Wochen später den Freischaltcode und kann dann mit der Therapie beginnen. Im ersten Schritt, der Einreichung der Rezepte bei der Krankenkasse durch die Patienten, gehen zwischen 30 Prozent und bis über 50 Prozent der Verordnungen verloren, von den ausgegebenen Freischaltcodes werden dann im zweiten Schritt nur gut 80 Prozent auch tatsächlich eingelöst. Insbesondere vor dem Hintergrund der beträchtlichen Unterausweisung der tatsächlichen DiGA-Verordnungen würde ich sagen, dass das Konzept DiGA bei einer Mehrheit der Ärzte bekannt ist und dass die Early Adopter darunter DiGA bereits in ihre Behandlungsroutine aufgenommen haben.
PEIX: Bei welchen Indikationen laufen DiGA besonders gut? Wenn es die Indikationen gibt, bei denen DiGA gut funktionieren, haben Sie eine Erklärung dafür, warum das so ist?
Marcus Bergler: Basierend auf den beiden Berichtsjahren des aktuellen DiGA-Berichts des GKV-SV ergibt sich folgendes Bild: Die Top-3-DiGA/Indikationen machen 50 Prozent aller eingelösten Freischaltcodes aus: zanadio (Adipositas) 28.000, vivira (Rückenschmerzen) und Kalmeda (Tinnitus) je 27.000, mit etwas Abstand folgen danach noch somnio (Schlafstörungen) 16.000, deprexis 10.000 und Selfapy Depression 9.000 (beide Depression). Um in diesem Zusammenhang noch mal kurz auf die Eingangsfrage zurückzukommen und meine Antwort zu präzisieren, insbesondere bei den Top-Indikationen, sind DiGA bei innovativen Ärzten in der Regelversorgung angekommen. Was haben jetzt also diese Indikationen und die entsprechenden DiGA gemeinsam? Zunächst mal einen hohen individuellen Leidensdruck aufseiten der Patienten bei gleichzeitig fehlenden oder limitierten Therapieoptionen. Gleichzeitig handelt es sich bei allen erfolgreichen DiGA auch um diejenigen, die als erste am Markt waren und keinen oder wenig Wettbewerb hatten. Oft mit Fachärzten als Hauptverordner, also einer vergleichsweise kleinen Zielgruppe, die effizient erreicht werden kann. Dazu kommt ein sehr früh professionalisierter Vertriebsansatz bzw. Kooperationen mit Pharmaunternehmen. Und last but not least natürlich eine gute Evidenzlage. Alle Top-DiGA waren zum Zeitpunkt der Aufnahme ins BfArM-Verzeichnis dauerhaft gelistet bzw. wurden zwischenzeitlich dauerhaft aufgenommen. Das sind aus meiner Sicht die wesentlichen Faktoren für den „relativen“ Erfolg der DiGA in den beschriebenen Indikationen. „Relativer“ Erfolg deshalb, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit keines der Unternehmen mit diesem Umsatzlevel profitabel sein wird. Und wie die aktuelle Insolvenz von aidhere (zanadio) zeigt, ist das Geschäftsmodell, Umsatz mit einer hohen Cash Burn Rate „zu erkaufen“ äußerst fragil und extrem anfällig für exogene Schocks, wie zum Beispiel einer signifikanten Preisreduzierung im Schiedsverfahren und den damit drohenden Rückzahlungsforderungen seitens der Kassen.
PEIX: Anwender bewerten DiGA meist positiv. Die Techniker Krankenkasse berichtet, dass über 50 Prozent der Befragten finden, dass die Anwendung dazu beiträgt, ihre Beschwerden zu lindern. Die absolute Mehrheit der Befragten würde DiGA auch in Zukunft bei Erkrankungen nutzen. Sind das nicht starke Hinweise dafür, dass DiGA prinzipiell gut funktionieren?
Marcus Bergler: Absolut, natürlich funktionieren DiGA, das stellen sie ja auch in den Zulassungsstudien unter Beweis. In diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist die richtige Auswahl der Patienten für eine DiGA-Therapie. Bei Abbruchquoten von 25 Prozent bis zum Teil über 50 Prozent ist die Motivation der Patienten das wesentliche Erfolgskriterium, denn viele DiGA basieren ja auf den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie – und Verhaltensänderung und damit Therapieerfolg brauchen starken Willen und Nachhaltigkeit. Und auch wenn man eine DiGA-Therapie „formal“ beendet, stellt sich ja nicht immer automatisch ein objektiver und/oder subjektiv empfundener Therapieerfolg ein. Deshalb ist es in der Kommunikation mit den verordnenden Ärzten besonders wichtig, gemeinsam ein ideales Patientenprofil zu definieren, bei dem die Erfolgsaussichten der digitalen Therapie besonders hoch sind. Nur so kann durch einen signifikanten Anteil positiver Patientenrückmeldungen an den verordnenden Arzt das Vertrauen in die Therapieform DiGA gestärkt werden.
PEIX: Was sollten die Hersteller kommunikativ tun, um die Integration der DiGA in die Versorgungslandschaft weiter voranzutreiben? Welche Zielgruppen sind dabei relevant?
Marcus Bergler: Da würde ich zwischen dem (standes-)politischen und regulatorischen Umfeld auf der einen und der individuellen Unternehmenskommunikation auf der anderen Seite unterscheiden. In den letzten zwei Jahren hatte ich den Eindruck, dass die Kommunikation auf Verbandsebene, vor allem durch den Spitzenverband digitale Gesundheitsversorgung, eher konfrontativ angelegt war. Zum Teil berechtigter Kritik seitens der Kostenträger wurde meist mit Gegenkritik begegnet, anstatt sich auf positive Gemeinsamkeiten zu konzentrieren. Mein Lieblingsbeispiel: Im aktuellen GKV-SV-DiGA-Bericht findet sich im Vorwort der wunderbare Satz: „Die zunehmende Wahrnehmung von DiGA mit nachgewiesenem Nutzen als Möglichkeit zur Unterstützung der konventionellen Versorgung ist erfreulich, denn DiGA können innovative Versorgungslösungen in der GKV darstellen, die die gesundheitliche Versorgung der Versicherten verbessern können.“ Doch anstatt diese Steilvorlage kommunikativ aufzugreifen, hat sich der SVDGV an der Kritik zu den Evidenzanforderungen abgearbeitet. Regulatorisch muss natürlich darauf hingewirkt werden, den DiGA-Verordnungsprozess patientenorientiert zu gestalten. Auf Unternehmensebene kommt es darauf an, eine klare Strategie hinsichtlich der Go-to-Market-Priorität zu entwickeln: Soll meine DiGA vom Arzt verordnet oder vom Patienten bei der Krankenkasse beantragt werden? In einem Umfeld mit meist knappen Ressourcen beides machen zu wollen, bedeutet letztlich keines von beiden richtig zu machen.
PEIX: Welche DiGA-Kampagnen sind Ihnen kommunikativ in letzter Zeit besonders aufgefallen, welche hat Ihnen gefallen und welche hat eher ein Geschmäckle?
Marcus Bergler: Geschmäckle wäre zu viel gesagt, ich würde eher von polarisierend sprechen und habe dabei Kranus Edera als digitale Therapie der erektilen Dysfunktion im Kopf. Die plakative Positionierung als „Potenz-App auf Rezept“ finde ich schon schwierig, vor allem angesichts der Tatsache, dass §34 SGB 5, der sog. „Lifestyle“-Paragraf, Arzneimittel von der Versorgung ausschließt, bei deren Anwendung „eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund“ steht. Eine explizit aufgeführte Indikation ist in diesem Zusammenhang die erektile Dysfunktion. Warum sollte die ED im Zusammenhang mit einer medikamentösen Behandlung eine „Lifestyle“-Indikation sein, bei einer digitalen Behandlung aber nicht? Ich persönlich würde in diesem Zusammenhang vielleicht etwas kleinere Brötchen backen, um keine schlafenden Hunde aufseiten des Gesetzgebers zu wecken, der im Sinne einer Korrektur dieses offensichtlichen Systembruchs auf die Idee kommen könnte, auch digitale Therapien in den §34 aufzunehmen. Vor allem wenn man dann in seiner PR, wie jüngst z. B. online bei Esquire.de, davon spricht, dass das Ergebnis der Anwendung von Kranus Edera „… Standhaftigkeit und natürlich besserer Sex …“ ist. Das schreit ja geradezu „Lifestyle“ und bettelt um Ausschluss von der GKV-Erstattung.
PEIX: Gibt es ein paar Grundregeln, welche die noch jungen DiGA-Hersteller bei ihrer Kommunikation von gestandenen Arzneimittel- oder Medizintechnikherstellern übernehmen können?
Marcus Bergler: Eigentlich müsste man noch viel früher anfangen, professionell zu arbeiten und von Best Practice-Beispielen zu lernen. Post Launch bei der Kommunikation, wenn man schon viel Geld in die Produktentwicklung und -zulassung investiert (oder versenkt) hat, ist es oft schon zu spät. Es erschließt sich mir nur schwer, wie man zum Beispiel Ressourcen in die Entwicklung der 6., 7. oder 8. DiGA für Depression stecken kann, ohne vorher die Wettbewerbssituation und/oder den Product-Market-Fit analysiert zu haben … Aber zurück zum Thema: Wichtig ist zuallererst die Produktpositionierung, welchen Unmet Medical Need adressiert, die DiGA, wie sieht das ideale Patientenprofil aus, wie unterscheidet sich meine DiGA vom Wettbewerb? Dann, wie bereits angesprochen, was ist meine Go-to-Market-Strategie: Arztverordnung (B2B) oder Patientenbeantragung (B2C)? Wenn Arztverordnung, welche Zielgruppe (Fachärzte vs. APIs)? Wie identifiziere ich die relevanten Verordner mit entsprechendem Patientenpotenzial? Wie kann ich diese dann entsprechend segmentieren (Stichwort: Personabuilding) und mit den richtigen Messages über welche (die richtigen?) Kanäle ansprechen? Wie groß muss mein Außendienst sein (ohne wird es kaum gehen, wie auch die jüngsten Entwicklungen im Markt zeigen) und wie organisiere ich ihn? Eigener vs. Dienstleister? Entgegen der ursprünglichen Einschätzung vieler DiGA-Anbieter hat eine DiGA, was die Vermarktungsstrategie angeht, viel mit einem Arzneimittel gemeinsam. Eigentlich kann man eine DiGA wie eine innovative, First-in-Class-Arzneimitteltherapie betrachten und muss sie auch so vermarkten. Oder wie es ein DiGA-Gründer jüngst in einem Workshop zu DiGA-Go-to-Market-Strategien, an dem ich beteiligt war, formuliert hat: „Ich weiß genau, dass ich meine DiGA wie eine digitale Pille vermarkten muss.“
Vielen Dank für das Interview!